Warum manche Menschen ihre Emotionen kaum wahrnehmen können – und was dahintersteckt

Viele Menschen erleben Momente, in denen sie nicht genau sagen können, was sie fühlen. Doch was bedeutet es, wenn dieses „Nicht-Wissen“ über das eigene Erleben zum Regelfall wird? Wenn Gefühle diffus bleiben, wenn innere Regungen nur als körperliche Symptome auftauchen oder wenn Betroffene sagen: „Ich weiß nicht, wie es mir geht.“

Dieses Phänomen nennt sich Alexithymie – wörtlich „keine Worte für Gefühle“.
Es ist keine Krankheit, sondern ein Persönlichkeitsmerkmal, das tiefgreifend beeinflusst, wie ein Mensch sich selbst, seinen Körper und seine Beziehungen erlebt.

Alexithymie bedeutet nicht Gefühlskälte.
Es bedeutet: Die Gefühle sind da – aber sie erreichen das Bewusstsein nicht klar genug, um benannt oder kommuniziert zu werden.

Was genau ist Alexithymie?

Der Begriff setzt sich aus drei altgriechischen Bestandteilen zusammen:

  • a – ohne
  • lexis – Wort
  • thymos – Gefühl

Menschen mit alexithymen Anteilen haben typischerweise Schwierigkeiten in drei Bereichen:

  1. Gefühle wahrzunehmen: Sie spüren körperliche Anspannung, Druck, Müdigkeit – aber nicht, welches Gefühl dahintersteht.
  2. Gefühle zu benennen: Sie erleben innere Unruhe oder Belastung, können diese aber nicht in Begriffe wie „Traurigkeit“, „Wut“, „Angst“ oder „Sehnsucht“ übersetzen.
  3. Gefühle mitzuteilen: Emotionale Kommunikation wirkt oft nüchtern, sachlich oder sehr kognitiv. Gefühle werden „beschrieben“, aber nicht gefühlt.

Wenn der Körper spricht

Ein zentrales Merkmal der Alexithymie ist die Somatisierung:
Emotionen äußern sich über den Körper, weil sie innerpsychisch schwer einzuordnen sind.

Beispiele hierfür sind:

  • Herzklopfen wird als körperliche Erkrankung verstanden, nicht als Angst.
  • Magenbeschwerden erscheinen rein „somatisch“, obwohl Stress eine Rolle spielt.
  • Spannungskopfschmerzen werden nicht mit innerer Anspannung in Verbindung gebracht.

Der Körper wird zum Sprachrohr für etwas, das emotional kaum zugänglich ist.
Das bedeutet nicht, dass die Beschwerden eingebildet sind.
Es bedeutet nur: Die emotionale Ebene ist schlechter erreichbar.

Wie entsteht Alexithymie? – Eine psychodynamische Perspektive

Ein Blick auf frühe Beziehungserfahrungen hilft zu verstehen, warum manche Menschen Gefühle nur schwer wahrnehmen und sprachlich erfassen können.

1.⁠ ⁠Fehlende emotionale Spiegelung

Wenn Bezugspersonen Gefühle nicht benennen, nicht halten oder nicht einordnen können, lernt ein Kind: Gefühle sind chaotisch, unwichtig oder störend. Ohne ein Gegenüber, das innere Zustände erkennt und spiegelt, entwickeln sich weniger differenzierte emotionale Innenwelten.

2.⁠ ⁠Schutz vor überwältigenden Emotionen

Wenn Gefühle zu stark oder zu schmerzhaft waren, wurde früh gelernt, sie abzuwehren.
Typische psychodynamische Abwehrmechanismen sind:

  • Rationalisierung
  • Intellektualisierung
  • Vermeidung körpernaher Emotionen

Diese Abwehr war einst notwendig – heute wirkt sie unbewusst weiter.

3.⁠ ⁠Wenig differenzierte innere Objekte

Aus Sicht der Objektbeziehungstheorie bedeutet Alexithymie oft, dass die inneren Bilder von Selbst und Anderen weniger emotional „gezeichnet“ sind.
Selbst erlebte Gefühle hatten zu wenig Raum, um sich zu entwickeln oder klar sortiert zu werden.

Ein Beispiel aus dem Alltag (fiktiv, aber typisch)

Ein Mann berichtet, er sei „eigentlich nicht gestresst“, habe aber fast täglich Magendruck.
In der Beziehung zu seiner Partnerin schweigt er oft, obwohl sie sich emotionale Offenheit wünscht.

Er sagt: „Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“
Er meint: „Ich weiß nicht, was ich fühle.“

Im therapeutischen Gespräch wird deutlich:
Der Magendruck ist ein körperlicher Ausdruck von Überforderung und Sorgen –
Gefühle, die er nie klar benennen gelernt hat.

Alexithymie in Beziehungen

Alexithymie beeinflusst Partnerschaften, Freundschaften und Arbeitsbeziehungen. Häufig entstehen Missverständnisse:

  • Nähe wird gewünscht, aber gleichzeitig als überfordernd erlebt.
  • Konflikte eskalieren, weil Gefühle erst spät oder sehr intensiv durchbrechen.
  • Andere fühlen sich „nicht emotional erreicht“.
  • Betroffene selbst erleben innere Leere oder Distanz.

Hier wirken oft unbewusste innere Szenen – ein Thema, das ich in der Instagram-Serie #DasUnbewussteSpricht regelmäßig beleuchte.

Alexithymie und Persönlichkeitsorganisation

Auch die Perspektive der Persönlichkeitsorganisation (Kernberg) bietet einen hilfreichen Zugang.

Alexithymie kann auf allen Strukturniveaus auftreten, findet sich aber häufiger dort, wo:

  • Affektregulation unsicher ist,
  • innere Objekte weniger differenziert sind,
  • Emotionen über den Körper statt über Sprache verarbeitet werden.

Sie tritt oft gemeinsam mit vermeidend-schützenden, schizoiden oder traumabezogenen Mustern auf – ist aber nicht darauf beschränkt.

Wie hilft Psychotherapie?

Therapie bedeutet bei Alexithymie nicht, „Gefühle zu produzieren“.
Sie schafft Bedingungen, in denen Gefühle wieder wahrgenommen, erkannt, benannt und verstanden werden können.

Wichtige Elemente sind:

  1. Einen sicheren Raum schaffen: Gefühle dürfen auftauchen, langsam und in verträglicher Intensität.
  2. Den Körper als Signal verstehen lernen: „Was spüren Sie gerade?“ wird mit der Zeit zu: „Was könnte dieses Gefühl bedeuten?“
  3. Emotionale Spiegelung in der Beziehung: Die therapeutische Beziehung dient als Modell: Gefühle werden erkannt, benannt und in Zusammenhang gesetzt.
  4. Innere Objekte differenzieren: Übertragungsarbeit hilft, alte Beziehungsmuster zu verstehen, und emotional mehr Tiefe und Klarheit zu entwickeln.

Fazit

Alexithymie bedeutet nicht, keine Gefühle zu haben. Es bedeutet, keinen guten Zugang zu ihnen zu haben. Die Psychodynamik hilft zu verstehen, wie dieses Muster entsteht – und wie innere Lebendigkeit, emotionale Sprache und Beziehungsfähigkeit wachsen können.

Wenn Gefühle Worte finden, entsteht Beziehung: zu anderen und zu sich selbst.

Psychotherapeutin

Stephanie Deest-Gaubatz

Approbierte Psychologische Psychotherapeutin.

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